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Wie die europäische Stahl-, Zement- und Chemieindustrie CO₂-frei wird - Vollversion veröffentlicht
Durch den Einsatz klimaneutraler Technik könnten die Stahl-, Zement- und Chemieindustrie bis 2030 die nötigen Treibhausgasminderungen für alle im europäischen Emissionshandel erfassten Industriesektoren erfüllen. Auf dem Klimagipfeltreffen am 22. & 23. April, zu dem Joe Biden eingeladen hat, könnte sich die EU als Klimavorreiter positionieren. In diesem Wettbewerb wird die klimaneutrale Transformation der Industrie entscheidend.
Berlin, 21. April 2021. Der klimafreundliche Umbau der europäischen Industrie spielt eine entscheidende Rolle, um das höhere EU-Klimaziel 2030 zu ermöglichen. Ein deutlich zunehmender Einsatz von klimafreundlichen Schlüsseltechnologien in der Stahl-, Zement-, Düngemittel- und Kunststoffproduktion birgt zudem die Chance für die EU, globale Technologieführerschaft auf diesem Gebiet zu übernehmen. Das zeigt eine umfassende Studie, die Agora Energiewende zu Schlüsseltechnologien für eine klimaneutrale Industrie und politischen Instrumenten für deren Etablierung veröffentlicht hat. Vor der heutigen Veröffentlichung hatte Agora bereits im November 2020 eine Kurzfassung der Studie veröffentlicht. Ein Kernergebnis der Studie ist, dass viele der klimaneutralen Technologien deutlich vor 2030 marktreif sein können – vorausgesetzt, die EU ergreift entschlossene Klimaschutzmaßnahmen.
„Der globale Wettlauf zu null Emissionen hat begonnen. Und wer die Führung bei klimaneutralen Technologien übernimmt, wird durch vorausschauende und mutige Klimapolitik entschieden", sagt Frank Peter, stellvertretender Geschäftsführer von Agora Energiewende. "Um nicht abgehängt zu werden, muss die EU jetzt die Wende zur klimaneutralen Industrie lostreten." Die Agora Studie zeigt, dass mit klimaneutralen Schlüsseltechnologien die Stahl-, Zement- und Chemieindustrie in den nächsten zehn Jahren die notwendigen Emissionseinsparungen für die gesamte Industrie erzielen könnte, die unter den europäischen Emissionshandel fällt – und damit zum höheren EU-Klimaziel 2030 von mindestens 55 Prozent weniger Emissionen beitragen. Zudem konterkarieren Investitionen in konventionelle Anlagen das Ziel der Klimaneutralität bis 2050: Spätestens dann dürfen nur noch klimaneutrale Anlagen laufen, damit die Industrieemissionen auf null sinken. Entsprechend stehen konventionelle Industrieanlagen in den 2040ern vor dem Aus. Anlagen, die in den 2020ern gebaut werden, erreichen somit nicht mehr ihr technisches Lebensende. „Unter diesen Umständen ist es fraglich, ob Industrieunternehmen überhaupt noch in den Standort Europa investieren“, sagt Peter. Dabei gebe es in den kommenden zehn Jahren einen hohen Reinvestitionsbedarf, und viele klimaneutrale Schlüsseltechnologien seien schon vor 2030 einsatzbereit.
Kurzfristige Erfolge, statt nachhaltige Emissionsminderungen
„Wir laufen gerade Gefahr, dass die EU kurzfristige Emissionsminderungserfolge in der europäischen Stahl-, Zement- und Chemieindustrie über langfristige Klimaziele stellt. Dabei ist bei der nachhaltigen Umstellung auf klimaneutrale Industrieprozesse der Weitblick entscheidend“, sagt Peter. „Industrieanlagen haben eine Lebensdauer von bis zu 70 Jahren – das heißt Investitionen in rein konventionelle Anlagen sind bereits heute nicht mehr kompatibel mit dem langfristigen Ziel der Klimaneutralität. Um Investitionsruinen zu vermeiden, muss die Entscheidung fortan auf die klimaneutrale Innovation fallen.“ Nur so würde sowohl das 2030er- als auch das 2050er-Klimaziel der EU erreicht werden.
Bei einem erhöhten 2030-Klimaziel von mindestens 55 Prozent müssten die Treibhausgasemissionen der energieintensiven Industrien, die unter den europäischen Emissionshandel fallen, bis 2030 um 27 Prozent gegenüber 2019 zurückgehen. Das entspricht rund 140 Millionen Tonnen CO₂. Laut Agora-Studie könnten die energieintensiven Unternehmen eine Minderung in Höhe von 145 Millionen Tonnen CO₂ allein dadurch erzielen, dass sie konsequent in klimaneutrale Technik investieren. Das gelte insbesondere für die anstehenden Reinvestitionen. Die Stahlindustrie könnte bis 2030 bereits ein Drittel von 188 Millionen Tonnen CO₂ im Jahr 2017 nachhaltig reduzieren: Wenn sie ab sofort von kohlebetriebenen Hochöfen, die das Ende ihrer Laufzeit erreichen, auf Direktreduktionsanlagen umrüstet. Diese Anlagen können anfänglich mit Erdgas betrieben werden und mit zunehmender Verfügbarkeit auf klimaneutralen Wasserstoff umstellen.
In Chemiewerken wird die Umstellung auf elektrische Wärmeerzeugung anstelle von erdgasbetriebenen Dampfkesseln wichtig: Bei einem beschleunigten Kohleausstieg – wie im Climate Impact Assessment, der Folgenabschätzung über ein höheres Klimaziel bis 2030 der Europäischen Kommission vom September 2020 angenommen – würde der europäische Strommix 2030 wesentlich sauberer werden und Strom entsprechend klimafreundlicher als Erdgas. Durch die Umstellung auf das sogenannte Power-to-Heat-Verfahren kann die Chemieindustrie laut Agora-Berechnung ein Fünftel ihrer CO2-Emissionen einsparen. Für die klimaneutrale Zementproduktion ist der Aufbau einer Infrastruktur zu CO₂-Abscheidung und -Lagerung – sogenanntes Carbon Capture and Storage (CCS) – zentral. Denn bei der Zementproduktion entsteht während des Klinkerbrennens unvermeidbar CO2. Der Zementindustrie eröffnet sich durch eine CCS-Infrastruktur zudem langfristig die Option zu negativen Emissionen beizutragen: Wenn sie CO₂-neutrale Biomasse als Brennstoff nutzt und dann das CO₂ anschließend mit CCS-Technik der Atmosphäre entzieht.
Industrieunternehmen fehlt aktuell Entscheidungsfreiheit
„Industrieunternehmen zeigen zunehmend Interesse an klimaneutraler Technik. Was ihnen fehlt, sind die Rahmenbedingungen für ein klimaneutrales Geschäftsmodell. Es ist Aufgabe der EU, einen Rahmen für die Investition in klimaneutrale Innovationen zu schaffen“, sagt Frank Peter. Mit der Aussicht auf hohe CO₂-Preise, strengere Umweltvorschriften und eine rückläufige Nachfrage nach kohlenstoffintensiven Produkten würden Unternehmen derzeit Investitionen in CO₂-intensive Anlagen scheuen. „Unter den aktuellen Bedingungen ist die Wahrscheinlichkeit hoch, dass sie ihre Investitionen in Länder mit niedrigeren Umweltanforderungen verlagern. So steigen die Industrieemissionen andernorts und europäische Industriestandorte gehen verloren. Die EU sollte daher jetzt das Paket für den klimaneutralen Umbau der energieintensiven Industrie schnüren.“
Die Vollversion der Studie „Breakthrough Strategies for Climate-Neutral Industry in Europe“ ist in Zusammenarbeit mit dem Wuppertal Institut entstanden. Die Studie ist in englischer Sprache erschienen und skizziert die wesentlichen Technologiepfade für nachhaltige Emissionsminderungen in Stahl-, Zement- und Chemiefabriken. Zudem enthält sie ein Maßnahmenpaket mit Politikinstrumenten, um den klimaneutralen Umbau der europäischen Grundstoffindustrie anzustoßen. Die Publikation steht unten zum kostenfreien Download zur Verfügung. Eine Zusammenfassung der Studie war bereits im November 2020 erschienen.
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Janne Görlach
Managerin für Presse- und Öffentlichkeitsarbeit Deutschland (aktuell nicht im Dienst)